Doyenne - so hatte Univ.-Prof. Dr. Otto Härtel, der Nachfolger von Univ.-Prof. Dr. Gottlieb Haberlandt in Graz, Waltraud Rücker vor vielen Jahren anlässlich eines Festaktes im Josephinum bezeichnet. Als Begründerin einer Fachrichtung in seinem Land anerkannt zu werden, ist für eine Wissenschaftlerin eine hohe Auszeichnung. Waltraud Rücker hat durch ihre bahnbrechenden Leistungen vielen weiteren wissenschaftlichen Arbeiten und Erkenntnissen den Weg geebnet.
Dass alles, was wir denken, seinen Ursprung in geistigen Leistungen anderer nimmt, wurde Waltraud Rücker nie müde zu betonen. Sie hat ein Leben lang die Rolle von Gottlieb Haberlandt, einem österreichischen Botaniker mit ungarischen Wurzeln und Begründer der physiologischen Pflanzenanatomie, hochgehalten und es war auch Ihrem Enthusiasmus für dessen Pioniertat zu verdanken, dass wir gemeinsam zum 100. Gedenktag seiner wegweisenden Publikation ein internationales Symposium veranstaltet und schließlich ein Buch zur Pflanzengewebekultur herausgebracht haben.
Aber zunächst der Reihe nach:
Die wegweisende Publikation "Culturversuche mit isolierten Pflanzenzellen" von Gottlieb Haberlandt im Jahre 1902 enthielt seine Vision von der Totipotenz der Pflanzenzelle, obwohl die Realisierung erst 1939 im Labor von Univ.-Prof. Dr. Roger Gautheret in Paris gelang.
In den 50er Jahren, am Institut für Chemie von Univ.-Prof. Dr. Engelbert Broda, lernte Dr. Waltraud Rücker durch Univ.-Prof. Dr. Georg Melchers die pflanzliche Gewebekultur kennen, und begründete damals die pflanzliche Gewebekultur in Österreich.
Anfang der 60er Jahre wurde Waltraud Rücker mit der Aufgabe betraut, im Forschungszentrum Seibersdorf ein Laboratorium für pflanzliche Zell- und Gewebekultur einzurichten. Die Erfahrungen dazu holte sie sich aus dem Laboratoire de Biologie Végétale an der Sorbonne bei Roger Gautheret, damals die erste Instanz auf diesem Gebiet. Aus dem Gautheret-Labor brachte Waltraud Rücker vertieftes Wissen nach Österreich zurück und baute hier ein völlig neues Fachgebiet auf. Im Seibersdorfer Labor wurde schließlich ein großes Spektrum von grundlegenden pflanzenphysiologischen und angewandten Fragestellungen bearbeitet.
In den 70er Jahren wechselte Waltraud Rücker wieder an die Universität Wien, formal an das Institut für Pflanzenphysiologie, faktisch ans Institut für Pharmakognosie, wo im Keller der Universitäts-Zahnklinik unter Einsatz von Projektgeldern ein kleines, aber feines, voll funktionstüchtiges Labor für Pflanzliche Gewebekultur eingerichtet wurde.
Ihre wissenschaftliche Bekanntschaft durfte ich im Praktikum zur Pflanzenphysologie machen, wo sie uns auf dem Balkon im Hörsaal des Pflanzen- Physiologischen Instituts, am Dach der Universität Wien, in die Geheimnisse der pflanzlichen Gewebekulturen einweihte. Es war dies eine so prägende Erfahrung, dass ich später meine Dissertation bei ihr verfassen sollte. Vor allem habe ich den absolut kritischen und exakten Zugang zum Aufbau von Versuchen, zur Bewertung der eigenen Daten, aber auch den Sinn für sprachliche Feinheiten und einen subtilen Humor zu schätzen gelernt.
Als "Schülerin" von Roger Gautheret hat sie mir stets den Eindruck vermittelt, dessen geistiges Enkelkind zu sein. Tatsächlich haben sich auf dem Gebiet der pflanzlichen Gewebekultur "Schulen" und Forschergruppen herauskristallisiert, die einem führenden Leitbild bzw. Leitgedanken anhingen. Während einige Forschergruppen die Anwendbarkeit ins Zentrum ihrer Bemühungen stellten, war es im Fall der Gedankenschule von Gautheret, ein Bestreben nach Erkenntnis der pflanzlichen Entwicklung, die den Wissensgewinn beinahe als "l'art pour l'art!" betrachtete, eine heute wohl vom Aussterben bedrohte Sichtweise.
Die besonders subtile Art von Humor hat mich an Waltraud Rücker und ihrem illustren Freundeskreis immer besonders fasziniert. Diese Form der Kultiviertheit wurzelte wohl in einer tiefen Erfahrung tragischer Ereignisse, die man nur mit besonderem Humor ertragen kann. Die Erzählung vom Kartoffel-zählenden Professor, der nicht vom Fleck kommt, weil "jede Kartoffel eine Entscheidung" ist, und die Bezeichnung unseres "exzentrischen Kaffees" als "Experiment des Tages" mögen dies vielleicht illustrieren.
Besonders betroffen war ich von der Kraft des Zweifels, mit dem Waltraud Rücker jedem wissenschaftlichen Experiment gegenüberstand. Rigorose Planung und sorgfältige Wiederholung von Experimenten habe ich von ihr gelernt. "Wie können Sie das mit dieser Sicherheit behaupten?" war ein Stehsatz, der mich oft bei der Auswertung meiner Versuche fast zum Verzweifeln brachte. Allerdings denke ich, heute sollte diese Frage, entsprechend dem Falsifikationsprinzips, viel öfter gestellt werden.
Die Begeisterung für die Entwicklungsfähigkeit der Pflanzenzellen hat Waltraud Rücker ein Forscherleben lang erfolgreich auf eine große Schar an Studenten, Diplomanten und Dissertanten übertragen.
Erstaunlich an Waltraud Rücker war das große soziale Engagement, das sie sich erhalten hat, was ihr Leben bestimmt nicht bequemer gemacht hat. Lange, bevor von der Öffnung des Eisernen Vorhangs und der Osterweiterung die Rede war, besuchten wissenschaftliche Gäste aus den östlichen Nachbarländern unser Labor in der Währingerstrasse. Und wenn recht schlimme Meldungen aus dem Osten kamen, mussten wir mit Kaffeepaketen zur Post gehen. Vor allem aber vermittelte sie ihren Schülern, dass das Leben immer neue Herausforderungen mit sich bringt.
Etwas zerstreut war Waltraud Rücker vor allem, was ihren VW Käfer betraf. So ist uns des Öfteren mitten im Stadtgebiet das Benzin ausgegangen, selbst von der Währingerstrasse bis zum Rudolfsplatz, oder auf dem Rückweg von einem Seminar von Univ.-Prof. Dr. Riklef Kandeler an der Universität für Bodenkultur.
Was die Themen betrifft, so wandte sich Waltraud Rücker vor allem pflanzenphysiologischen Fragestellungen zu, die je nach Kooperationspartner unterschiedlichen Ausrichtungen folgten.
Für ihre Vorlesungen hat Waltraud Rücker mit viel Akribie und Liebe eine Vielzahl von Diapositiven angefertigt, die nicht nur die vielzähligen beobachteten und erzielten Entwicklungsstadien, vor allem von Heilpflanzen aufzuzeigen, sondern auch die einzelnen Arbeitsschritte verdeutlichen. Diese Sammlung hat Waltraud Rücker dankenswerterweise der PBU an der BOKU überlassen.
1984 wurde Frau Dr. Waltraud Rücker von der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien am Institut für Pflanzenphysiologie die Lehrbefugnis als Universitäts-Dozentin für „Pflanzenphysiologie mit besonderer Berücksichtigung der Pflanzlichen Gewebekultur“ verliehen.
Nach 1989 verlegte sie Ihre Tätigkeiten und vor allem viele ihrer Kulturen in das neu gegründete in vitro Labor der Gartenbauschule Schönbrunn.
Auch in der Pflanzenbiotechnologie-Gruppe der BOKU hat Waltraud Rücker mit uns weitergearbeitet. So haben wir 1998 das 100-jährige Jubiläum der Haberlandt'schen Idee mit einem Symposium gewürdigt, denn schließlich muss Haberlandt die Idee ja schon vorher gehabt und mit den Arbeiten begonnen haben, wenn er sie 1902 in den Berichten der K&K Akademie der Wissenschaften publizieren konnte. 2003 haben wir gemeinsam den Gedenkband "Plant Tissue Culture: 100 Years since Gottieb Haberlandt" beim Springer Verlag herausgegeben.
Univ.-Doz. Dr. Waltraud Rücker war über 30 Jahre lang National Correspondent der IAPTC, seit ihrer Gründung im Jahr 1971, und hat in dieser Funktion zur Organisation des Deutschen Botanischen Kongresses 1984 und des 17. Intl. Botanical Congress 2005 in Wien beigetragen. Diese Funktion habe ich seither von ihr übernommen.
Für ihre lebenslange Widmung für die pflanzliche Gewebekultur wurde Fr. Univ.-Doz. Dr. Waltraud Rücker 2004 denn auch der Gottlieb-Haberlandt-Preis verliehen. An der Universität Wien wurde Univ.-Doz. Dr. Waltraud Rücker 2006 das Goldene Doktordiplom aus Anlass der 50. Wiederkehr der Verleihung überreicht.
Besser könnte man die Anwesenheit von Fr. Dr. W. Rücker in unserer Mitte nicht beschreiben als mit den Worten von Konfuzius: Leuchtende Tage. Nicht weinen, dass sie vorüber. Lächeln, dass sie gewesen.
a.o. Univ.-Prof. Dr. Margit Laimer, November 2024.